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Der Wizlaw-Nachtrag in der Jenaer Liederhandschrift
Die ThĂŒringer UniversitĂ€ts- und Landesbibliothek Jena besitzt einen ganz besonderen Schatz, die Jenaer Liederhandschrift (Hs J). In ihr sind auch die Lieder und SprĂŒche Wizlaws von RĂŒgen tradiert. Jedoch leider nicht mehr vollstĂ€ndig, da mehrere Seiten, gerade auch im wichtigen Bereich der SprĂŒche, spĂ€ter herausgeschnitten wurden. Da es (bis jetzt) keine zweite Ăberlieferung gibt, mĂŒssen wir den Verlust an Wissen ĂŒber das Denken, FĂŒhlen, Lieben und Leben Wizlaws beklagen. Zumindest solange, bis vielleicht die fehlenden Seiten einmal gefunden werden sollten, was ich natĂŒrlich sehnsĂŒchtig erhoffe.
Auf der Homepage der Bibliothek besteht die Möglichkeit, sich die Seiten der Jenaer Liederhandschrift online anzeigen zu lassen. Dazu mĂŒsst ihr diesem Link https://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00008190 folgen und dann auf das Foto der Handschrift klicken. Die Anzeige der gewĂŒnschten Seite erfolgt ĂŒber das MenĂŒleistenfeld [1]. Es klappt dann ein MenĂŒ auf, das die Auswahl aller Seiten der digitalisierten Handschrift ermöglicht. Die Seitenangaben fĂŒr ... ... die Lieder und SprĂŒche Wizlaws von RĂŒgen: [140] â 72v bis [156] â 80v ... den Preisspruch des Goldener auf Wizlaw: 1. Strophe: [89] â 47r (rechte Spalte, letzter Absatz) 2. Strophe: [88] â 46v (hingekritzelter Nachtrag unter der rechten Spalte) ... den Preisspruch Frauenlobs auf Wizlaw: [207] â 106r (linke Spalte, letzter Absatz und erste vier Zeilen der rechten Spalte) Es ist auch möglich, in der StrukturĂŒbersicht auf der linken Seite den betreffenden Autor (z.B. 72vb-80vb Wizlav von RĂŒgen) anzuklicken. Dann springt die Anzeige auf die erste Seite des jeweiligen Corpus (im Beispiel wĂ€re das [140] â 72v).
Ăber das DrĂŒcken der Taste PDF könnt ihr euch ein PDF-Dokument der gewĂŒnschten Seite(n) dieser kostbaren Handschrift erstellen lassen. Ich finde, es ist ein sehr lobenswerter Service, den die ThĂŒringer UniversitĂ€ts- und Landesbibliothek hier anbietet. Danke!
Mithilfe dieser Anzeigemöglichkeit habe ich die Blattlagenbindung des Wizlaw-Nachtrags (rot) analysiert: 10. Lage: 11. Lage: 72----------|-abgeschnitten mit Textverlust 77----------|----------78 71----------|----------73 abgeschnitten mit Textverlust-|----------79 70----------|----------74 76----------|----------80 69----------|-abgeschnitten ohne Textverlust 75----------|-abgeschnitten mit Textverlust Mit Blatt 81 fÀngt wieder eine neue Bindung an, die aber nicht mehr zum Wizlaw-Corpus gehört.
Neben den vier abgeschnittenen BlĂ€ttern, davon drei mit Textverlust, gibt es einen weiteren Eingriff an Blatt 73. Dem Blatt wurde an der Ă€uĂeren oberen Ecke ein rechteckiges StĂŒck unmittelbar ĂŒber den Textspalten herausgeschnitten, das reichlich ein Drittel der Blattbreite umfasst. Die in spĂ€terer Zeit aufgetragene Blattnummer 73. steht deshalb an der Schnittkante und nicht wie ĂŒblich am Blattrand. Wenn auf diesem beseitigten Blattbereich der Verfassername geschrieben stand - was ich stark vermute -, dann muss diese weitere Verletzung des Corpus zu einer spĂ€teren Zeit erfolgt sein, als das Entfernen der vier kompletten Seiten. Ansonsten hĂ€tte (und hat bestimmt zuvor auch) Wizlaws Name auf dem nicht mehr vorhandenen Blatt zwischen 72 und 73 gestanden, also auf der ursprĂŒnglich ersten vollstĂ€ndig mit Wizlaws Dichtung beschriebenen Seite. Er wurde höchst wahrscheinlich nach dem (den) Blattverlust(en) auf dem nun ersten vollstĂ€ndig zum Wizlaw-Corpus gehörenden Blatt noch einmal nachgetragen und anschlieĂend abermals beseitigt. Warum das alles nur?
Durch diese fast schon gezielte Beseitigung wichtiger Indizien, die eine Urheberschaft des FĂŒrsten Wizlaw III. von RĂŒgen zu 100% sicher gemacht hĂ€tten, trat nun ein, dass spĂ€testens seit dem schon erwĂ€hnten Aufsatz von Wilfried Seibicke - und in der jĂŒngeren Vergangenheit leider verstĂ€rkt - eben diese Urheberschaft angezweifelt und dabei vorhandene neuere und fundierte Forschungsarbeit mit positivem Bezug auf Wizlaw als FĂŒrst von RĂŒgen (Sabine Werg 1969, Birgit Spitschuh 1988) ignoriert wurde. Seit dem Jahrtausendwechsel scheint sich mit den Veröffentlichungen von Reinhard Bleck (2000) und Horst Brunner / Dorothea Klein (2021), die sich mit guten Argumenten fĂŒr eine IdentitĂ€t von FĂŒrst und Dichter/Komponist aussprechen, das Blatt wieder zu wenden.
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Dieses Diagramm stellt die vermuteten Anteile der Textverluste am Gesamtcorpus dar. Ich konnte natĂŒrlich nur ein SchĂ€tzverfahren anwenden, indem ich die FĂŒllung der Originalseiten ĂŒber den obigen Link zur ThĂŒringer UniversitĂ€ts- und Landesbibliothek ausgewertet habe. BerĂŒcksichtigen musste ich natĂŒrlich die unterschiedliche TextfĂŒllung bei Strophen mit und ohne Noten. Die drei mit Textverlust herausgeschnittenen BlĂ€tter (jeweils vier Textspalten) habe ich als vollstĂ€ndig beschrieben angenommen, ebenso, dass das fehlende Blatt hinter Blatt 80 noch im vollen Umfang zum Wizlaw-Corpus gehört hatte. Da auf diesen BlĂ€ttern auch Texte mit Noten standen, gleicht sich das VerteilungsverhĂ€ltnis dem ĂŒberlieferten Textbestand prozentual in etwa an. Somit ergibt sich dieses Bild: gelb: ~ 62% erhalten gebliebener Textbestand rot: ~ 11% Textverlust durch frei gehaltene Bereiche fĂŒr weitere, nicht ĂŒberlieferte Strophen blau: ~ 27% Textverlust durch drei mit Textverlust abgeschnittene BlĂ€tter
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So sehen wir, dass vermutlich leider nur knapp zwei Drittel des dichterischen und musikalischen Schaffens Wizlaws auf uns ĂŒberkommen ist. Ich hoffe natĂŒrlich so sehr, dass das nur eine Augenblickaufnahme ist, und zumindest die abgeschnittenen Seiten, die ein reichliches Viertel von Wizlaws Gesamtwerk ausmachen könnten, in irgend einem Archiv gefunden werden. Der Rest - reichlich ein Zehntel - sind nicht notierte Strophen.
Was stand auf den herausgetrennten BlĂ€ttern? Warum wurden diese herausgetrennt? Die fehlenden Seiten befinden sich im Teil mit den SprĂŒchen (zwischen Ihc wil singhen und Menschen kint denket dar an und zwischen Manich scimphit vph sin eygen tzil und dem Taglied) sowie am Schluss des Herbstliedes. Wenn die BlĂ€tter gezielt wegen des Inhalts eines oder mehrerer SprĂŒche abgeschnitten wurden, dann ist das Taglied nur zufĂ€llig beschĂ€digt worden. Gerade die SprĂŒche könnten im verstĂ€rktem MaĂe Aufschluss ĂŒber Wizlaws Gedankenwelt, Ideale, BeweggrĂŒnde fĂŒr sein Handeln usw. liefern. Ăberliefert ist auch, dass diese BlĂ€tter schon fehlten, als die Handschrift in der Renaissance neu gebunden wurde. Das hieĂe, dass der Verlust spĂ€testens Anfang des 16. Jahrhunderts eingetreten ist oder sogar schon zeitnah nach der Kompilation des Wizlaw-Corpusâ.
Und es gibt fehlende Strophen, fĂŒr die im Wizlaw-Nachtrag Platz gelassen wurde. (Drei Strophen pro Lied waren im Minnesang ĂŒblich. Birgit Spitschuh hat diese Stellen in ihrer Dissertation auf den Seiten 10 bis 12 analysiert.) Kann es etwa sein, dass Wizlaw Lieder in slawischer Sprache verfasst hatte, die der Schreiber einfach nicht verstanden hatte und deshalb nicht notierte? Das wĂ€re eine Sensation und fĂŒr mich ein wunderbarer Gedanke. Stellt euch vor, das zarte Liebesgedicht Ich partere dich durch mine vrowen hĂ€tte noch eine polabische und eine dĂ€nische Strophe!
Ja, ich weiĂ, das sind alles Wunschvorstellungen, aber trĂ€umen darf ich doch noch. Und hoffen, dass wir irgendwie und irgendwann einmal das Gesamtwerk des dichtenden RĂŒgenfĂŒrsten kennen werden. Umso mehr muss ich die Verluste beklagen, die wir nach gegenwĂ€rtigem Wissenstand hinnehmen mĂŒssen. Das macht mich schon sehr traurig!
Reinhard Bleck hat in seiner 2000 erschienenen lesenswerten Monographie âUntersuchungen zur sogenannten Spruchdichtung und zur Sprache des FĂŒrsten Wizlaw III. von RĂŒgenâ nicht nur ein starkes PlĂ€doyer fĂŒr die IdentitĂ€t von RĂŒgenfĂŒrst und Dichter gegeben, sondern auch eine interessante Lösung fĂŒr Wizlaws Ton I (Menschen kint denket dar an) angeboten. Anhand von inhaltlichen und textlichen Korrelationen zwischen den zehn Strophen dieses Tones ist er zu dem Schluss gekommen, dass die Strophen ursprĂŒnglich in einer anderen Reihenfolge zusammengesetzt gewesen sein mĂŒssen, als spĂ€ter vom Schreiber des Wizlaw-Nachtrags notiert. Durch die neu aufgebaute Strophenfolge entsteht eine Logikkette, die auf einen konkreten Anlass fĂŒr die Dichtung dieses Tones hindeutet: eine persönliche Situation des FĂŒrsten im Jahr 1316 wĂ€hrend seiner Auseinandersetzung mit Stralsund. Mir ging es beim Lesen dieser Herleitung wie damals mit der neuen Charenza-Theorie: Es war auf einmal alles so einleuchtend!
Im Folgenden seht ihr eine Originalseite des Wizlaw-Nachtrags der Jenaer Liederhandschrift als Schwarz-WeiĂ-Reproduktion. Es handelt sich dabei um das Blatt 78v mit dem Ende des Lieds Uvol vph ir stolzen helde und dem Beginn des Lieds Meyie scone kum io tzĆŻ. In Zeile 9 der rechten Spalte ist eine der drei zitierten Stellen zu sehen, in denen sich Wizlaw selbst nennt: âVvizlau der iĆ«ghe singhet diz lietâ
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FĂŒr die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Abbildung möchte ich mich bei Frau Dr. Wefers, der Direktorin der ThĂŒringer UniversitĂ€ts- und Landesbibliothek (www.thulb.uni-jena.de), bedanken.
Die Quellen, auf die ich mich bei meiner Arbeit vorrangig gestĂŒtzt habe (chronologisch geordnet): 1. Hagen, Fr. H. v. d. âMinnesinger, Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts I - IVâ, Leipzig 1838 2. Fabricius, C. G. âUrkunden zur Geschichte des FĂŒrstentums RĂŒgen unter den eingeborenen FĂŒrstenâ, Stettin 1851 3. Dannenberg, H. âPommerns MĂŒnzen im Mittelalterâ, Berlin 1864 4. Pyl, Th. âLieder und SprĂŒche des FĂŒrsten Wizlaw von RĂŒgenâ, Greifswald 1872 5. Dannenberg, H. âMĂŒnzgeschichte Pommerns im Mittelalterâ, Berlin 1893 6. Pyl, Th. âDie Entwicklung des pommerschen Wappens, im Zusammenhang mit den pommerschen Landesteilungenâ, in Pommersche GeschichtsdenkmĂ€ler VII, Greifswald 1894 7. Behm, O. âBeitrĂ€ge zum Urkundenwesen der einheimischen FĂŒrsten von RĂŒgenâ, Greifswald 1913 8. GĂŒlzow, E. âDes FĂŒrsten Wizlaw von RĂŒgen Minnelieder und SprĂŒcheâ, Greifswald 1922 9. Haas, A. âArkona im Jahre 1168â, Stettin 1925 10. Hamann, C. âDie Beziehungen RĂŒgens zu DĂ€nemark von 1168 bis zum Aussterben der einheimischen rĂŒgischen Dynastie 1325â, Greifswald 1933 11. Scheil, U. âGenealogie der FĂŒrsten von RĂŒgen (1164 - 1325)â, Greifswald 1945 12. Rudolph, W. âDie Insel RĂŒgenâ, Rostock 1954 13. Ohle, W., Baier, G. âDie Kunstdenkmale des Kreises RĂŒgenâ, Leipzig 1963 14. Steffen, W. âKulturgeschichte von RĂŒgen bis 1817â, Köln, Graz 1963 15. Werg, S. âDie SprĂŒche und Lieder Wizlavs von RĂŒgen, Untersuchungen und kritische Ausgabe der Gedichteâ, Hamburg 1969 16. VĂĄĆa, Z. âDie Welt der alten Slawenâ, Praha 1983 17. Gloede, G. âKirchen im KĂŒstenwind - Band IIIâ, Berlin 1984 18. Herrmann, J. (Hg.) âDie Slawen in Deutschland - Ein Handbuchâ, Berlin 1985 19. Spiewok, W. âWizlaw III. von RĂŒgen, ein Dichterâ, in: Almanach fĂŒr Kunst und Kultur im Ostseebezirk, Nr. 8 (1985) 20. Spitschuh, B. âWizlaw von RĂŒgen: eine Monografieâ, Greifswald 1989 21. Lange, A. âTausendjĂ€hriges Ralswiekâ, Bergen 1990 22. Hages-WeiĂflog, E. âsnel hel ghel scrygh ich dinen namen - Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhundertsâ, in: âLied im deutschen Mittelalter. Ăberlieferung, Typen, Gebrauchâ, TĂŒbingen 1996 23. Bleck, R. âUntersuchungen zur sogenannten Spruchdichtung und zur Sprache des FĂŒrsten Wizlaw III. von RĂŒgenâ GAG Folge 681, Göppingen 2000 24. Schmidt, I. âGötter, Mythen und BrĂ€uche von der Insel RĂŒgenâ, Rostock 2002 25. Jahn, L. âWizlaw III. von RĂŒgen - FĂŒrst und MinnesĂ€ngerâ und âWizlaws Liederbuchâ, Hofgeismar 2003 26. Sobietzky, G. âDas FĂŒrstentum RĂŒgen und sein Geldwesenâ, Stralsund 2005 27. Kratzke, Ch., Reimann, H., Ruchhöft, F. âGarz und Rugendahl auf RĂŒgen im Mittelalterâ, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 90 (2004), Kiel 2005 28. Ruchhöft, F. âDie Burg am Kap Arkonaâ (Reihe: ArchĂ€ologie in Mecklenburg-Vorpommern, Band 7), Schwerin 2010 29. Reimann, H., Ruchhöft, F., Willich, C. âRĂŒgen im Mittelalterâ (Reihe: Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Band 36), Stuttgart 2011 30. Ev. Kirchengemeinde St. Marien Bergen auf RĂŒgen (Hg.) âDas bestickte Leinentuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Bergen auf RĂŒgenâ, Bergen auf RĂŒgen 2013 31. Möller, G. âEine interessante âSchatzkisteâ aus dem Jahr 1318 in Stralsund - Ein Beitrag zur spĂ€tmittelalterlichen Sachkultur des norddeutschen Adelsâ, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 102 (2016), Kiel 2017 32. Brunner, H., Klein, D. âWizlav - SangsprĂŒche und Minneliederâ IMAGINES MEDII AEVI InterdisziplinĂ€re BeitrĂ€ge zur Mittelalterforschung Band 52, Wiesbaden 2021
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