Wappen der 'verbürgerlichten' Wizlawiden
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7. Kapitel
Minnesänger Wizlaw von Rügen - im Stil der Manessischen Liederhandschrift

Vom Minnesänger Wizlaw von Rügen ist bisher leider keine bildliche Darstellung überliefert. So zeichnete der Autor dieser Seiten zwei Bilder. Links, im Stil der Manessischen Handschrift, reitet Wizlaw, begleitet von guten Wünschen seines Lehrmeisters Magister Ungelarte, fröhlich zu seiner Geliebten, die ihn mit einem Kranz empfängt. Neben den beiden Wappen der Rügenfürsten ist auch deren Helm mit Pfauenfedern und vier Lilienstängeln zu sehen. Das rechte Bild zeigt im Stil der Weingartner Lieder- handschrift das Paar unter einem Lindenbaum.

Minnesänger Wizlaw von Rügen - im Stil der Weingartner Liederhandschrift

“Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.” (Bertolt Brecht)

Ebenso verhält es sich mit Geschlechtern wie den Wizlawiden oder mit Ländern wie dem Fürstentum Rügen.
Hier könnt ihr Wizlaw III. virtuell gedenken.

Fürst Wizlaw III. von Rügen war einer der letzten Minnesänger und der einzige nachweisbare mittelalterliche Dichter von der Ostseeküste. Er entstammte einem alten slawischen Adelsgeschlecht, das schon in vorchristlicher Zeit die rüganischen Herrscher stellte.

Ein kleiner Blick in die Geschichte soll zum Verständnis beitragen: Im 6./7. Jahrhundert ließ sich im Zuge der Völkerwanderung der Slawenstamm der Ranen oder Rujanen auf Rügen, den benachbarten Inseln und dem vorgelagerten Festland nieder. Das Territorium des Königreichs (bis 1168) bzw. Fürstentums Rügen umfasste in etwa das Gebiet des heutigen Landkreises Vorpommern-Rügen. Hier findet ihr weitere Informationen zu den Ranen und hier zur Sprache der Slawen des Ostseeraums.

Die Ranen hielten von allen Slawenstämmen am längsten am alten Glauben fest. Auf der Insel befand sich neben den Kultstätten mehrerer lokaler Götter auch das Hauptheiligtum aller Westslawen: der Tempel des obersten Slawengottes Svantevit in der Burg von Arkona. Diese Tempelburg wurde im Jahr 1168 durch ein dänisches Heer unter Führung des Bischofs Absalon von Roskilde erobert und die überlebensgroße Figur des Gottes zusammen mit dem gesamten Heiligtum zerstört.

Nach der wenig später erfolgten Einnahme der Königsburg Charenza (bzw. Karentia oder Karenz) mussten die rüganischen Herrscher Tezlaw und Jaromar dem Dänenkönig Waldemar den Treueid leisten und wurden als Fürsten von Rügen (ruyanorum principis, was “Fürst der Rujanen” bedeutet) in den dänischen Lehnsverband aufgenommen. Die ranische Bevölkerung wurde in der Folgezeit christianisiert. Dieser Prozess erfolgte im Unterschied zu anderen Regionen friedlich.

Für den weiteren Landesausbau, der verstärkt in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzte, wurden mehr Menschen gebraucht, als im Lande verfügbar waren. Die Folge davon war, dass neue Siedler, meist aus dem norddeutschen Raum, im Fürstentum Rügen heimisch wurden. Diese Ansiedlung von Niederdeutschen und auch Flamen wurde von den Ranenfürsten und dem slawischen Adel natürlich aus wirtschaftlichem Interesse gefördert. Wichtig zu erwähnen ist aber die Tatsache, dass keine Hinweise über Hass und Gewalt oder über Unterdrückung der ansässigen slawischen Bevölkerung vorliegen, im Unterschied zu den benachbarten Ländern (Mecklenburg, Brandenburg, Pommern). Nur in einer Urkunde aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird über einen Zwist zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen berichtet, der aber schnell wieder beigelegt wurde. Es hat also ein mehr oder minder gutes Nebeneinander, wenn nicht sogar Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten gegeben.

Aus diesem wunderbaren Miteinander ist das Leben des letzten rüganischen Fürsten und Minnesängers Wizlaw erklärbar. Wizlaw wurde als Erster von vermutlich vier Söhnen und vier Töchtern in der Ehe von Fürst Wizlaw II. (um 1240 - 29. Dezember 1302) und der welfischen Prinzessin Agnes von Braunschweig-Lüneburg 1265 oder 1268 geboren. Schon relativ früh müsste er eine literarische Ausbildung erhalten haben. Als sein Lehrmeister wird ein Magister Ungelarte angesehen, der um 1300 in Stralsund urkundlich nachweisbar ist. ”Ungelârte” bedeutet so viel wie ”umherziehender Literat”. In dem Lied Der vnghelarte aus der Anfangszeit von Wizlaws Schaffen nennt er ihn als seinen Lehrer. Zugleich beklagt Wizlaw die Mühen des Erlernens der ”sehnenden Weise”. Meiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass der Prinz um echte Meisterschaft bemüht war. Ein Ton des Ungelarten, von dem uns leider keine Originaltexte überliefert sind, ist in der Colmarer Liederhandschrift des 15. Jahrhunderts zu finden. Hier könnt ihr diesen Spruch lesen. Oft wurde angenommen, dass Wizlaws Hauptschaffenszeit vor seinem Regierungsantritt als Fürst gelegen haben muss. Dem möchte ich jedoch widersprechen, denn an Inhalt und Form gerade seiner Minnelieder erkenne ich, dass Wizlaw sein ganzes Leben lang gedichtet haben muss. Das schon genannte Lied Der vnghelarte steht meiner Meinung nach ganz am Anfang seiner Minnedichtung, als Wizlaw, sicher zusammen mit seinen Geschwistern und weiteren Kindern vom Fürstenhof, Schüler bei Magister Ungelarte war. Ich kann mir richtig ausmalen, wie er vor den anderen Kindern - vor allem vor den Mädchen, die ihn dann sicher geneckt haben - geprahlt hat, nachdem ihm ein Lied nach dem Vorbild der “sehnenden Klage” seines Lehrers gelungen ist. Von da an war es sicher noch ein weiter und schwerer Weg, bis Wizlaw schließlich ein so formvollendetes Kunstwerk wie Loybere risen schaffen konnte, mit ideenreichem, bildhaftem Inhalt, kunstvollem Reim und wunderbarer Melodie. Das wird er sicher in späteren Jahren geschrieben haben, vielleicht erst an seine zweite Frau Agnes gerichtet. Einen Großteil seiner Minnelieder dichtete der Prinz und spätere Fürst aber bestimmt auf seine Geliebte Margarete. Auch Meyie scone kum io tzů könnte im Alter gedichtet worden sein. Der Inhalt lässt es zumindest vermuten.

Die Herrschaft im Fürstentum Rügen übernahm Wizlaw 1302 gemeinsam mit dem einzigen noch lebenden Bruder Sambor. Nach dessen Tod 1304 regierte er allein. Wizlaw war zweimal verheiratet: Zuerst (vor 1305) mit Margarete aus einem unbekannten Geschlecht und nach ihrem Tod (um 1310) mit Agnes aus dem Hause Lindow-Ruppin. Während die erste Ehe kinderlos blieb, hatten Agnes und Wizlaw die zwei Töchter Euphemia und Agnes und den lange ersehnten Nachfolger Jaromar. Doch dieser starb, vermutlich erst etwa dreizehnjährig, am 24. Mai 1325 noch vor dem Vater, der am 8. November 1325 für immer die Augen schloss. Wizlaw starb an gebrochenem Herzen über den Tod seines geliebten Sohnes. Ohne diesen Schicksalsschlag hätte er sicher noch gut zehn Jahre länger gelebt. Es ist sehr denkbar, dass der Vater den guten Rat im Spruch Ich warne dich vil iungher man ghe tzarte an seinen Sohn gerichtet hatte, ohne zu ahnen, dass dessen Ende “Die Heil’gen empfangen dich dann wie ihresgleich / und deine schöne Seele in Gottes hohem Reich.” so grausam schnell eintreten sollte...

Die Regierungszeit Wizlaws verlief nicht immer friedlich: Hineingezogen in die Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum in den 1310er Jahren - zwischen seinem Lehnsherrn, Dänenkönig Erik VI. Menved, sowie Markgraf Waldemar von Brandenburg und den reichen Handelsstädten an der Ostsee - fand er wohl schwerlich zur dichterischen Muse. Besonders kompliziert war Wizlaws Verhältnis zu Stralsund, jener einflussreichen und mächtigen Stadt im Fürstentum Rügen. Für die kriegerischen Auseinandersetzungen mit ihr, die nicht zu rechtfertigen sind und bei denen der Fürst schließlich unterlag, gab es sicherlich mehrere Gründe. Feudaler Machterhalt und Eigennutz waren bestimmt zwei davon. Aber auch ein Ereignis aus seinen Jugendjahren wird ihn geprägt haben: Wizlaw wurde während einer Andacht im Rigaer Dom, nachdem er einem Kaufmann eine unwillige Antwort wegen einer Schuld gab, von diesem niedergestochen. Als Folge davon litt er an einem Gehfehler. Ein anderer Aspekt ist ebenfalls recht interessant. Nachweislich versuchte der Fürst die Stadtarmut in ihrem Kampf gegen das Patriziat zu unterstützen. Ob da etwa neben deren Ausnutzung für eigene Interessen auch so etwas wie soziales Gewissen mitschwang? Aufschlussreich ist zum Beispiel folgende Episode: Ein Großteil des Adels Rügens, Ritter wie Knappen, hatte sich in diesem Konflikt gegen seinen Lehnsherren gestellt und sich mit der Stadt Stralsund verbündet. Die Ersten auf der Bündnisliste und damit Wortführer der oppositionellen Vasallen waren die Herren zu Putbus. Der Vertrag mit den Siegeln ist noch im Stralsunder Stadtarchiv erhalten. Neben der Absicht dieser Adligen, von der wirtschaftlich starken Stadt Geld und andere Vorteile zu erlangen, war das wohl auch Ausdruck eines schon länger schwelenden Konflikts mit Wizlaw. Dieser hat offensichtlich versucht, seinen Einfluss auch zu gunsten der ärmeren Schichten seines Landes geltend zu machen, und ist somit in Widerspruch zu den Patriziern, sowie reichen Kaufleuten und Ritterfamilien seines Landes geraten. Was, wenn sich Wizlaw gar sagte: “Ein reicher Städter oder ein wehrhafter Ritter hat alle Möglichkeiten, für sich, seine Familie und sein Gesinde zu sorgen. Der Fürst aber muss für die da sein, die das nicht können, weil sie arm oder schwach sind.”?

Unabhängig davon, wie wir Wizlaws Handeln in diesen konfliktreichen, bewegten Jahren einschätzen, seine Leistung als mittelalterlicher Dichter und Minnesänger ist jedoch unbestritten.

Von Wizlaw sind uns 14 Lieder und 13 Sprüche überliefert, die als Nachtrag in der Jenaer Liederhandschrift auf den Seiten fol. 72vb - 80vb enthalten sind. Gedichtet hat er auf jeden Fall mehr, da sowohl an einigen Stellen Platz für weitere Strophen gelassen wurde, als auch drei Seiten mit Textverlust fehlen. Dadurch wurde auch der erste Spruch Wizlaws, Ihc wil singhen, fälschlicher Weise Meister Friedrich von Sonnenburg zugeschrieben. Da auch keine Autorenüberschrift erhalten blieb, konnte die Zuordnung der Texte zu Wizlaw nur erfolgen, weil er sich an drei Stellen selbst nennt, davon einmal als ”Wizlaw der junge” in Unterscheidung zu seinem Vater. Drei Töne sind infolge der abhanden gekommenen Seiten nur unvollständig erhalten. Dafür ist uns aber in dieser Handschrift ein anderer Schatz erhalten geblieben: Sämtliche Lieder und Sprüche enthalten auch die Melodien in Quadratnotation, sodass wir diese spätmittelalterliche Musik fast problemlos nachempfinden können. Hier findet ihr mehr zum Wizlaw-Corpus der Jenaer Liederhandschrift.

Der Fürst ist übrigens auch der einzige hochadlige Minnesänger, der mehr als nur ein paar Gelegenheitslieder schrieb und der sich außerdem der Sangspruchdichtung zugewandt hatte, einer Domäne der bürgerlichen Spielleute und der Sänger aus niederem Adel. Walther von der Vogelweide, von dem übrigens Wizlaw sehr wahrscheinlich durch den Ungelarten Kenntnis hatte, brachte bekanntlich diese Art der Dichtung zur Blüte.

Von zwei der Spielleuten, mit denen Wizlaw offensichtlich befreundet war, existieren Lobsprüche, die neben den ritterlichen Tugenden auch seine Gastfreundschaft, seine Güte und seinen Gerechtigkeitssinn würdigen. Es handelt sich dabei um die bürgerlichen Sänger Goldener und Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob. Letzterer gründete um 1300 in Mainz eine Sängerschule und wurde im Kreuzgang des dortigen Doms beigesetzt. Sein Grab ist noch erhalten, der später erneuerte Stein trägt die Umschrift “Henricus Frowenlob dem gott genadt + anno domini mcccxviii”. Hier könnt ihr beide Preissprüche lesen. Zwei weitere fahrende Sänger, Hermann Damen und Rumelant von Sachsen, waren ganz sicher auch am rujanischen Hof zu Gast. Ersterer schrieb einen Lobspruch und ein Rätsel auf Wizlaws Anverwandte Johann II. und Bartholomäus I. von Gristow.

Wizlaws Spruchdichtung enthält zum großen Teil Themen mit ethisch-moralischem Hintergrund, manche in religiösem Gewand. Ein zentraler Punkt ist die Entscheidung des Menschen zwischen Gut und Böse. Der Dichter lässt auch keinen Zweifel daran, dass Gott nur dem gut und gerecht handelnden Menschen beisteht. Und gibt somit seine eigene Meinung kund, in dem er zum Beispiel in Saghe an du boser man dem ins Gewissen redet, der nicht so handelt. Im Spruch Manich scimphit vph sin eygen tzil nennt er einen Verleumder ”eytter slanghen” und wünscht ihm die Verachtung durch Männer und Frauen. Gerade die Sprüche mit religiösem Inhalt sind sehr persönlich gehalten. Es kommt mir so vor, als ob Wizlaw darin seine eigene Entscheidung zum Christentum kund tut. Da ist kein Dogmatismus, kein Zwang. Und er zeigt religiöse Toleranz, ob auf den Glauben der antiken Römer bezogen oder darin, dass auch Heiden den Verfall der Gesellschaft beklagen.

Neben dem religiösen Gedankengut des mittelalterlichen Menschen erfahren wir auch einiges aus Wizlaws Bildung: Die Kenntnis der Bibel können wir voraussetzen. Er belegt sie an einigen Stellen, so auch mit dem ”Traum Nebukadnezars” aus dem Buch Daniel. Auch die Sage vom Ritter Marcus Curtius aus dem alten Rom ist ihm bekannt, denn er setzt sie in einem Spruch um.

Der Spruch Mir ge schit nicht wen mir scaffen ist ist ebenfalls interessant. In meiner eigenen Nachdichtung, die auch für die folgenden Textbeispiele gilt und sich nah an den Originaltexten hält, lautet er so:

Mir geschieht nichts, weil's für mich bestimmt!“
„Es muss sein!“ Solcher Sinn dann bringt
so manche Menschen noch dazu,
dass sie sich selbst betrügen.
„Mir bestimmt“ und „Es muss doch sein“,
so hört man diese Torelein,
wie sie lügen, und in der Welt
Worte unwahr von ihnen fliegen.
Tun sie ein Leid,
sind sie gefeit,
und behaupten, das es so sein musste.
Das darf nicht sein!
Nun verstehet mein:
Noch niemand sowas wusste,
an Worten, noch an Büchern alt.
Woher nehmen die Toren diesen Halt,
dass sie die Leute so betrügen?
Ihr Sinn muss sie doch selbst belügen.

Hier ermahnt Wizlaw seine Zuhörer, sich nicht fatalistisch einem wie auch immer gearteten, unabwendbaren “Schicksal” zu beugen, sondern zu versuchen, das Glück selbst in die Hand zu nehmen, also ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ob das wohl so manchem hohen Vertreter der Amtskirche gefallen hätte? Und noch wichtiger: Wizlaw kritisiert Menschen, die eine (vorgeblich) fatalistische Haltung dazu nutzen, um jedes Handeln, auch das schlechteste, ungerechteste und verbrecherischste, zu rechtfertigen. Hat er dabei gar an seinen eigenen Großvater gedacht?

Den Abschluss des Themas ”Sprüche” soll ein Rätsel bilden, das der fürstliche Sänger verfasst hatte und zu dem bis heute keine befriedigende Lösung gefunden wurde. Vielleicht versucht’s mal jemand... Rätselsprüche waren bei mittelalterlichen Spielleuten recht beliebt. Hier soll nun einmal der mittelhochdeutsche neben dem neuhochdeutschen Text stehen.

Nu rate eyn wiser waz diz si.
iz wont vns alghe meyne bi.
vñ ist vns allen vnder tan
doch ez iz vnser here.
Iz ist groz went iz vns wert.
vñ ist noch kleyner den eyn ert.
vñ tůt vns manigher hande walt
mit sin vmmekere.
Daz ist so rich.
nicht sin ghe lich.
weyz ich imme libe.
Dar tzů so kluch.
mit siner vůch
trift iz man von wibe.
Uollenkomene macht iz hat.
vñ ghit tzů allen dinghen rat.
vñ ist tummer wen ie icht wart
nu rate dise lere.

Nun rate, du Weiser, was das sei:
Es wohnt uns allen immer bei,
und ist uns allen untertan,
und doch ist es unser Herr.
Es ist groß, uns kostbar und reiner,
und doch einer Erbse viel kleiner.
Und tut uns so manche Gewalt
mit seiner schnellen Umkehr.
Es ist so reich,
nichts ist ihm gleich,
das ich wüsste am eignen Leib.
Dazu sehr klug.
Mit seinem Fluch
trennt es den Mann von seinem Weib.
Vollkommene Macht es hat,
und gibt zu allen Dingen Rat,
und ist dümmer als ich jemals war.
Nun rate diese Lehr'.

Wie bei den Sprüchen - dort sind es vor allem die wandernden Sänger Rumelant und Reinmar von Zweter gewesen - so hat sich Wizlaw auch bei seinen Liedern zum Teil an literarische Vorbilder gehalten: an den Schwaben Gottfried von Neifen und den Schweizer Steinmar, aber ganz sicher auch an seinen Lehrmeister Ungelarte. Dass ihm dessen ”sehnende Weise” beim Erlernen schwer gefallen ist, habt ihr schon gelesen. Jedenfalls entwickelte Wizlaw bald seinen eigenen Stil:

Nach der sehnenden Klage muss ich singen.
Könnte ich mir doch selber bringen
Freude, nach dem Willen mein.
Ich möchte leben ohne Kümmernis,
so wär' mir immer Freud' gewiss.
Hoher Stimmung würde ich sein.
So überträf' ich jede sehnende Weise,
dass man mich stets preise
bis ins Alter, als fröhlicher Greise,
fernab jeder Pein.

Ein lieblich Abenteuer, das mich hoch erfreut,
bereitet mir die Liebe heut,
wenn ich denk' an ihre Würde.
Welch nach Wunsche wohltuendes Bilde,
das vor meinen Augen spielte,
und mir mein Herz berührte!
Mit Macht, und strahlend hell wie die Sonne.
Gibt's denn größ're Wonne,
wenn sie mich mit Schönheit, die nie verrinne,
bezwang und verführte?

Sie schoss mir durch die Augen in das Herze,
entfachte es wie eine Kerze,
als sie mit Macht ist gelandet.
So beraubt sie mich all meiner Sinne,
die liebenswerte Minne.
Seht, wie hat sie mich verblendet!
Wem die Geliebte die Waage stellt
und sich zu ihm gesellt,
so dass die Herzensliebe beiden gefällt,
ist Lieb' durch Lieb' gewendet.

Bei diesem Lied spürt man schon, dass der Sänger so gar kein Freund von Liedern ist, in denen sich der minnende Ritter lediglich entsagungsvoll an seiner Angebeteten verzehrt, sondern, dass er sehr natürliche, wirklichkeitsnahe und lebendige Vorstellungen hat. In Wizlaws Minneliedern geht es immer um erfüllte oder erfüllbare Liebe, auch wenn die Sorge um Liebe und Geliebte ihm so manchen Schmerz bereitet, wie in Uve ich han ghe dacht beschrieben. Auch in List du inder minne dro, einem Taglied - das ist der Wechselgesang zwischen der Frau und ihrem Ritter, der sie bei Tagesanbruch verlassen muss - bleibt sich Wizlaw seinen Vorstellungen treu.

Die meisten Lieder weisen noch eine für den Fürsten typische Besonderheit auf: Sie besitzen volkstümliche Gestaltungselemente und beginnen mit einem recht umfangreichen Natureingang. Im Winterlied sind es die fallenden Blätter im kalten Wind. Aber in seinen fünf Mailiedern sind es die nun wieder erwachende Natur, die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Der blühende Anger und der Vogelgesang assoziieren nun wieder Fröhlichkeit, Musik, Tanz und Liebe. Schade ist nur, dass sich in der besungenen Natur kein namentlicher Bezug zu Wizlaws sicher schon damals schönen Inselheimat findet.

Die Vögelein
empfangen des hellen Maien Schein.
Durch ihre süßen Töne fein
haben wir sie genossen.
Dem Anger ziehten
– gelb, rot, weiß – der Blumen Blüten
ein buntes Farbkleid an. In Frieden
die Blätter sind gesprossen.
Vollendet gut
der Anger in Blütenpracht ruht,
dass es den Augen Milde tut,
den Männern und den Weiben.
Was entlockt der Mai'n,
die Sonne lässt's gedeih'n.
Wohl dem, der bei der Liebsten kann sein!
Der mag fröhlich bleiben.

Nun nehmet wahr,
die bunte, stattliche Schar,
Buhurt, Turnier euch offenbar.
Danach woll'n wir tanzen.
So rennt jetzt fort
in die Freuden, hier und dort.
Werft die Sorgen ab am Ort,
bei den Schleppen, den ganzen.
Tragt hohen Mut
immer durch der Frauen Gut.
Eine, die mir Sanftheit tut,
die mag mir's wohl lohnen.
Wenn sie spürte Lust,
würfe ich mich auf ihre Brust,
so dass es würde ein Liebestjost.
Doch nein, sie will's verschonen.

Noch lebe ich so,
dass ich durch sie werde froh.
Trotz Kummer trag ich's Haupte hoch,
doch ist das nur gespielt.
Du Geschöpf mit Zier
und edlem Sinn, nimm mich zu dir
und löse mich von den Sorgen schier.
Du bist mir gar fremd und wild!
Wer weiß, manch Leben
ward schon für die Lieb' gegeben.
Lange hab ich dich gebeten:
Erlöse mich schnell von dem all!
Deine Sinneswend'
lässt mich stürzen am End'
in deiner Minne Dolch behend,
so dass ich auf dein Herze fall'.

Im Lied De voghelin, dass ihr gerade gelesen habt, kommt sehr schön Wizlaws Wunsch nach erfüllter Liebe zum Ausdruck. Und wenn, wie hier, die Geliebte es “sconen” (verschonen) will, dann ist für Wizlaw stets selbstverständlich: “Nein heißt Nein”. Auch wenn es ihm fast das Herz bricht, wie er es uns so anrührend in der dritten Strophe beschreibt. Dass für Wizlaw das Liebesverhältnis immer ein harmonisches und gleichberechtigtes und damit auch ein für die damalige Zeit sehr emanzipiertes war, zeigt uns auch das erotischste Minnelied des Sängers Vvol dan her meyie:

Wohlan, Herr Mai, ich schenke Euch meine Huld,
denn meine Frau schreitet daher in prächt'gem Gewand.
Ihr Schmuck, ihr Kleid, ihr Leib, all das lag mit Geduld,
der kalte Schnee, das Eis, der Wind dies tat dem Land.
Entnommen sind sie dem Schrein,
meine Frau, die macht sich fein.
Sie tritt heran,
als ob sie spräche: „Seht mich an,
ihr Mädchen, Frau und Mann.”

Meine Frau weiß, dass ich lobe den Mai.

Noch lieber ist mir, wenn ich von ihr hab' gehört.
Das kommt von ihrer Güte, die ist so vielerlei.
Unter tausend Frauen hätte ich nur sie gekührt.
Meine Frau ist so schön,
dass unter dem Himmelsthron
noch keine Frau tat
je die Güte, die meine hat.
Preiset sie, dies ist mein Rat.

Sähe ich die Gute nach meinem Willen gedrängt,
so ließ ich gern all meine Wünsche vor fahren.
Dann hätte sich mein Wille mit ihrem vermengt:
In einem Bette wir uns zusammenscharen.

Vielleicht kann Glück ich fassen,
und sie wird mir’s zulassen?
Es ist so nah!
Von ihr hört' ich ein lieblich „Ja!“.
Mit Lust komm' ich: „Allda! Ah! Ah!“.

Holzschnitt mit Szenen zum Minnelied Vvol dan her meyie

Als letztes Textbeispiel soll euch hier sein wohl künstlerisch vollkommenstes Lied Loybere risen erfreuen, dass auch gern von Gruppen und Interpreten der Gegenwart, so z.B. von Angelo Branduardi, aufgegriffen wird. Hier soll noch einmal Wizlaws Text meiner Nachdichtung gegenüber gestellt werden.

Loybere risen.
von dem boym
ē hin tzů tal.
des stan blot ir este.
Blomen sich wisen.
daz se sint v
ůr torben al.
scone wast ir gleste
Sus twinghet deriphe.
manigher hande v
ůrtzel sal.
des bin ich ghar sere be tr
ůbet.
Nu ich tz
ů griphe.
sint der winder ist so kal.
des wirt nuwe vroyde ghe
ůbet.

Helphet mir scallen.
hundert tusent vroyden mer.
wen des meyien bl
ůte kan bringhen.
Rosen de vallen.
an mir vrowen roter ler.
da von wil ich singhen.
Tuwinct mich de kulde.
al ir v
ůrtzel smaghes ger.
de sint an ir libe ghe strowet.
Vvorbe ich ir hulde.
so be drocht ich vroyden mer.
sus dem
īningliche mich vrowet.

Die Blätter fallen
von den Bäumen auf's Land.
Ganz kahl sind die Äste.
Den Blumen, allen,
ist ihre Welke nun bekannt.
Ihr Glanz war das Beste.
So zwingt auch der Reif
viele Kräuter welk in den Sand.
Das hat mich ganz schmerzlich betrübt.
Nun, da ich begreif',
seit uns des Winters Kälte bannt,
wie man trotzdem neue Freude übt.

Helfet mir schallen
von hunderttausend Freuden mehr,
als des Maien Blüte kann bringen.
Rote Rosen fallen
auf liebe rote Wangen sehr.
Davon will ich singen,
zwingt mich Kälte zur Geduld.
Kräuter, deren Duft ich begehr',
sind über ihren süßen Leib gestreut.
Erwürb' ich ihre Huld,
bedürft’ ich nichts anderes mehr
als, dass die Liebliche mich erfreut.

Minnesang als Ausdruck des Strebens nach einem anderen, besseren Menschenbild, als es in der damaligen Gesellschaft üblich war. Auch im Herbstlied Wizlaws kommt dies zur Wirkung. In diesem Genre werden die deftigen Freuden des Herbstes, die handfesten Ess- und Trinkgenüsse, gepriesen. Er singt ”...Was auf Erden gewachsen ist, Mensch, das alles ist dir gewiss...”. Wizlaw schränkt dieses ”Mensch” nicht ein, nicht auf einen Stand, nicht auf ein Volk. Alle sollen satt werden. Auch diese ehrenwerte Haltung kommt nicht von ungefähr: Zum einen zeichnete sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine Veränderung des Klimas ab, es wurde feuchter und kälter. Auf diesem Diagramm könnt ihr sehr gut den Temperatureinbruch um das Jahr 1300 erkennen, als Vorboten der “Kleinen Eiszeit” ab dem 15. Jahrhundert. (Die rote Linie - Nr. 9 - ist der für Europa zutreffende Temperaturverlauf. Auslöser war eine stark reduzierte Sonnenaktivität, das Wolf-Minimum.) Die schlimme Allerheiligenflut vom 1. November 1304 mit ihren vielen Opfern, und in der große Teile im Südosten der Insel Rügen zum Katastrophengebiet wurden, steht fast schon als Menetekel am Beginn von Wizlaws Alleinregierung. Vor allem aber veränderte sich die Gesellschaft zu Beginn des Spätmittelalters. Gerade in einer so wohlhabenden Stadt wie Stralsund wurde die Diskrepanz zwischen Arm und Reich immer größer, obwohl sicher genug für alle da wäre. Und auch auf dem Land - wo es damals durchaus üblich war, dass auch der Ritter auf seinem Lehen mitgearbeitet hatte, wenn er nicht gerade im Dienst für den Fürsten stand - versuchte nun so mancher der Adligen ebenfalls zu Reichtum zu gelangen, und das natürlich auf Kosten seiner Bauern. So spürte ein kluger und mitfühlender Mensch wie Wizlaw sicher, dass das Gefüge in seinem Land auseinander fallen kann, wenn die Menschen nicht mehr bereit sind miteinander zu teilen, mit denen die arm sind oder anderweitig in Not gerieten. Und so mahnte er diese urchristliche Kultur des Teilens in Form seines Herbstliedes Der herbest kumpt an. Wizlaw mit dem großen Herzen. Heute würde man es Solidarität nennen.

Hier könnt ihr die mittelhochdeutschen Originaltexte und eine Transkription der Lieder und Sprüche Wizlaws lesen.

Hier könnt ihr ältere und neuere neuhochdeutsche Nachdichtungen der Lieder und Sprüche Wizlaws lesen.

Das kleine innigliche Liebesgedicht Ich partere dich durch mine vrowen hat Dr. Birgit Spitschuh in ihrer Dissertation ”Wizlaw von Rügen: eine Monografie” anders gedeutet, als ich es nachgedichtet habe. In der Tat ist der Originaltext teilweise schwer verständlich und die Meinungen gehen dazu auseinander. Vor allem klingt es so, als ob Wizlaw von zwei Frauen spricht, einer, die er mit “du” anredet - offensichtlich seine Geliebte -, und einer, die er “mine vrowen” nennt. Ich habe mich mit dem Verständnis dessen auch sehr schwer getan, bin aber schließlich zu meiner Nachdichtung “Ich erwähle dich aus allen Frauen” gekommen. Dr. Spitschuhs interessanter Ansatz von der Geliebten und einer von ihr verschiedenen Herrin findet sich noch in einem ganz anderen Bezug wieder: In der Darstellung von Minneszenen auf dem bestickten mittelalterlichen Leinentuch aus Bergen auf Rügen, dass ich euch unter diesem Link vorstelle, einschließlich einer eigenen Interpretation der Bildfolge.

Näheres zu Dr. Spitschuhs Dissertation findet ihr in meinem Plädoyer für die Identität von Fürst und Minnesänger Wizlaw.

Wenn ihr auf das erste Bild neben diesem Text klickt, bekommt ihr die Minnelieder und Sprüche Wizlaws als PDF-Dokument. Die 1. Spalte enthält die Originaltexte in mittelalterlichen Majuskeln und Minuskeln ähnelnde Schriftarten (GoticaBastard für die Überschriften und MorrisRoman für die Strophen). In der 2. Spalte steht eine mittelhochdeutsche Normierung der Texte und in der 3. Spalte findet ihr meine eigenen Nachdichtungen.
Beim Klick auf das zweite Bild erhaltet ihr ein
PDF-Dokument mit den zu den Tönen Wizlaws gehörenden Melodien in der überlieferten Quadratnotation. Die Seiten sind aus dem alten Werk von Fr. H. v. d. Hagen eingescannt, deshalb habt bitte Nachsicht bei der Qualität. Beachtet bitte auch, dass das Dokument sehr groß ist (3,6 MB).

Liebe Spielleute und Minnesänger von heute, extra für euch:

Wizlaws Texte als PDF-Download Wizlaws Melodien als PDF-Download

Bei meinen Nachdichtungen habe ich mich ganz bewusst nah an die Originaltexte gehalten, um möglichst viel von Wizlaws Denken und Fühlen in unsere heutige Sprache herüber zu bringen. Je tiefer ich mich mit dem Original befasst habe, desto klarer wurde mir: Alle seine Sprüche und Minnelieder kommen aus tiefem Herzen. Ich fand nichts Gekünsteltes dabei und fühlte mich völlig in Wizlaws Gefühls- und Gedankenwelt mitgenommen. So wird es wohl seinen Zuhörern damals auch gegangen sein. Da ist das bereits genannte ernsthafte Bemühen um künstlerische Meisterschaft schon in Jugendjahren - und der prahlerische Stolz auf das nach großen Mühen Geschaffene. Da sind die vielen zarten Töne, mit der er die Liebesbeziehung beschreibt, die Angst um sie und die lustvolle Freude. Und da sind sehr persönlich gehaltene Sprüche und Gebete. Der kleine Spruch Ich warne dich vil iungher man ghe tzarte mit dem guten Rat des Vaters an seinen Sohn ist mit seinen kunstvollen Melismen auch ein Beispiel für Wizlaws musikalisches Talent. Auch die anderen Melodien zeigen seine Vielseitigkeit auf diesem Gebiet. Für mich lassen “wort” (das Gedicht) und “wîse” (die Melodie) Wizlaws tiefe slawische Seele erklingen. Dass es für Wizlaw wohl schwierig war, in der “Fremdsprache” Mittelhochdeutsch zu dichten, zeigen auch viele Ungenauigkeiten bei der Fallbildung und -setzung und bei der Verwendung der Personalpronomen, die mir das Verständnis des Textes erschwerten. Außerdem verwendet er sehr häufig bei Wörtern wie “er” ein “h” im Anlaut, sodass “er” angehaucht als “her” erscheint, ähnlich wie Jahrhunderte später der Polabe Johann Parum Schultze in seiner deutschsprachigen “Wendland-Chronik”. Meiner Meinung nach ein Zeichen für Slawen, die sich sowohl auf Slawisch als auch auf Deutsch verständigen. Zudem kommen noch die mittelniederdeutschen Einsprengsel im Corpus hinzu, also Worte die im “Lexer”, dem mittelhochdeutschen Taschenwörterbuch, in dieser Form nicht zu finden sind. Gleichzeitig beherrschte Wizlaw nicht nur einen wunderbaren Wortschatz, sondern war auch in der Lage kunstvolle Reime und Wortspielereien zu kreieren. Das beste Beispiel dafür ist Der walt vnt angher lyt ghe breyt. Für die Nachdichtung die passenden Worte zu finden, war nicht ganz einfach, da sowohl Reim als auch Wortlänge passen sollen und der Sinn nicht entstellt werden darf. Trotzdem hatte ich bei einigen Textstellen Probleme, den Inhalt zu verstehen, so auch in der letzten Strophe des gerade genannten Minnelieds: Die Wortfolge “samen ramen” könnte auch anders gedeutet werden, je nach Länge der Vokale. Dann hätte Wizlaw vielleicht so seine Freude über den lang ersehnten Nachwuchs Ausdruck verliehen, darüber, dass es ihm nun endlich gelungen war, ein Kind zu zeugen. Viele Jahre lang - seine ganze erste Ehe mit Margarete und auch noch danach - blieb der Kinderwunsch unerfüllt, sodass Wizlaw sich gezwungen sah, mit seinem dänischen Lehnsherrn einen Erbvertrag abzuschließen. Ich bin mir, nach allem was ich über ihn erfahren habe, ganz sicher, dass Wizlaw niemals seiner lieben Frau irgend einen Vorwurf gemacht und dafür die Ursache bei sich selbst gesucht hat.

Wenn ich bedenke, dass Wizlaw vermutlich zweisprachig (slawisch und mittelniederdeutsch) aufgewachsen ist, dazu Mittelhochdeutsch als “Fremdsprache” erlernte, mit Sicherheit das Lesen und Schreiben beherrschte sowie meisterhaft und mit Anklängen an nord- und osteuropäische Volksmusik komponierte (manche Forscher sprechen gar von einem slawischen Tonfall in der Melodie) und bestimmt mindestens ein Musikinstrument spielen konnte, dann kann ich ihn nur als einen äußerst intelligenten und kultivierten Menschen sehen, wie es damals sicher nicht allzu viele gegeben hatte. Schon allein deshalb hätte Wizlaw eine Würdigung verdient. Und dann kommt noch der Inhalt seiner Dichtung hinzu: Das Bild einer auf Gegenseitigkeit aufgebauten Partnerschaft in seinen wunderschönen Minneliedern, die in seinen Sangsprüchen enthaltenen Gedanken über das Zusammenleben der Menschen, das Eintreten für Güte und Gerechtigkeit und das Aufstehen gegen Schicksalsergebenheit. Über die gleichfalls in Der walt vnt angher lyt ghe breyt anklingenden naturwissenschaftlichen Kenntnisse Wizlaws könnt ihr mehr auf meiner Astronomie-Seite erfahren.

Liebespaar, Kalkmalerei in der Kirkerup Kirke

Für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Abbildung möchte ich mich bei Herrn Johannes Michelsen, dem Präsidenten des Rates der Pfarrgemeinde der Kirkerup Kirke (www.kirkerupkirke.dk) bedanken. Tak!

Verbindend mit dieser neuen Kleidermode hat mich schließlich ein Holzschnitt des 15. Jahrhunderts angeregt, sein Motiv umzuzeichnen und mit unserem Liebespaar Wizlaw und Margarete zu schmücken. Wellige Landschaft und Baumhain passen gut zur Insel Rügen, aber auch zur Gegend südlich von Barth, so beim Weiler Saatel. Dazu habe ich Wizlaws nur in seiner ersten Strophe überlieferte Minnelied Ich partere dich angefügt und um hoffentlich nicht ganz falsch verfasste Strophen auf Altpolabisch (stare polabane) und Altdänisch (gammeldansk) ergänzt: So könnte es Wizlaw seiner Geliebten vorgesungen haben
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Download dieses Bildes in großer Auflösung (4000 x 2700, 1,84 MB). Es kann gern zur Bewerbung von Veranstaltungen zum Minnesänger Wizlaw genutzt werden, wenn ihr darauf auch einen Hinweis auf mich und meine Website gebt.

Die neben dem Text gezeigte Kalkmalerei aus der Zeit um 1300 befindet sich in der Kirkerup Kirke in der Nähe von Roskilde in Dänemark. Sie sollte eigentlich die Besucher der Kirche im Mittelalter vor der Sünde einer unkeuschen Liebesbeziehung warnen. Aber ganz so ernst scheint das der Maler (und der auftraggebende Priester?) wohl doch nicht gesehen zu haben, denn seine Figuren machen einen recht sympathischen Eindruck. Sie sind sich beide in inniger Umarmung zugetan und ihre Tasselmäntel mit reichem Fehbesatz zeichnen sie als Adlige aus. Das schöne bernsteinfarbene Kleid der jungen Frau und ihr Gebende mit dem “wizen swanzen”, dem Schleiertüchlein, könnten fast einem Minnelied Wizlaws entsprungen sein. Der junge Mann selbst trägt eine Cotte im modischen mi-parti, die eine Hälfte weinrot, die andere silbergrau. Das Gewand ist zudem schon körperbetonter und kürzer geschnitten als bisher üblich. Besonders interessant finde ich aber die schräg gemusterten Beinlinge: In dieser Form waren sie in den Bilddarstellungen jener Zeit (z.B. Sachsenspiegel) stets ein Charakteristikum für Slawen, ebenso die kürzer geschnittenen Haare.
Könnte nicht sogar unser Wizlaw als Vorbild für den Maler gedient haben?
Nach allem was wir aus seinen Liedern kennengelernt haben, muss er ein sehr modern eingestellter Mann gewesen sein, der sich durchaus auch freute, Erotisches über die passende Kleidung zu sehen. Und - wenn ich diesen Gedanken weiterspinne - könnte er am Ende gar eine der größten Moderevolutionen befördert haben: Den spätmittelalterlichen Übergang zu körperbetonter Kleidung bei Frau und Mann und damit verbunden die beginnende endgültige Verkürzung der Männertracht. Etwa 50 Jahre später war durch die tonangebende Kultur am Prager Hof Kaiser Karl IV. diese Modernisierung zum internationalen Durchbruch gelangt und wird zum Teil auch als “Böhmische Mode” bezeichnet. Typisch sind dabei der Wechsel von der Cotte zur kurzen, eng anliegenden Schecke, die mit ebenso eng anliegenden Beinlingen und langen Schnabelschuhen ein schlankes Aussehen förderten. Bei den Frauen betonten die weiterhin langen Kleider dafür im Brust- und Taillenbereich die Figur. Wenn Wizlaw an dieser Entwicklung seinen Anteil hätte, dann wäre das schon eine Sensation!

Wizlaw und Margarete im Minnegärtlein

Ein Plädoyer für Wizlaw, dem Sänger und Fürsten

Unter den nicht wenigen Schriften (siehe auch die Literaturliste unten), die sich - mehr oder weniger literaturwissenschaftlich, umfangreicher oder kürzer - dem Minnesänger Wizlaw widmen oder ihn zumindest streifen, gibt es zwei, die die Identität des Minnesängers mit dem Fürsten Wizlaw anzweifeln. Es sind dies die beiden Aufsätze “Drei Spielmannsnamen” von Anton Wallner aus dem Jahr 1908 (erschienen in “Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Band 33”) und 'wizlau diz scrip' oder: Wer ist der Autor von J, fol.72v-80v?” von Wilfried Seibicke (erschienen im Niederdeutschen Jahrbuch 101, 1978).

Der Haupteinwand beider gegen eine Autorenschaft des Fürsten Wizlaw III. von Rügen ist das ihrer Meinung nach wenig fürstliche Repertoire des Dichters Wizlaw, seine gleichwertige Wichtung von Minnesang und Spruchdichtung, ja sogar, dass er überhaupt Sprüche gedichtet hat. Aber warum sollte ein Fürst oder angehender Fürst denn keine Sangsprüche verfassen? Nur weil es andere Hochadlige nicht gemacht haben? Für Wizlaw ist doch ganz offensichtlich das Dichten und Komponieren nicht nur Zeitvertreib gewesen, weil es gerade Mode war, wie für seine Standesgenossen. Er tat es gleichwohl aus Berufung. Und warum sollte es nicht möglich sein, dass der letzte Rügenfürst in bestimmten Fragen anders gedacht hat als das Gros seines Standes? Dass er sich in seinen Sprüchen Gedanken um das Zusammenleben der Menschen macht, spricht doch eher für seine Rolle als Fürst und Politiker als dagegen.
Als Argument für eine Identität von Sänger und Fürst möchte ich hier nur einmal seine Minnelieder anführen. Diese Lieder lassen doch geradezu das höfische Leben wieder vor uns aufblühen. So wie Wizlaw diese ritterliche Kultur beschreibt, die zu seiner Zeit an vielen anderen Höfen schon am Verblassen war, kann es nur einer tun, der diese selbst erlebt und gelebt hat. Es gibt meines Wissens nur wenig andere Texte aus der Zeit um 1300, die die höfische Kultur ähnlich preisen wie die Lieder Wizlaws. Man darf auch nicht vergessen, dass der Minnesang zu dieser Spätzeit nicht mehr den strengen Konventionen jenem der Blütezeit ein Jahrhundert zuvor folgt. Auch deshalb sind des Rüganer Lieder ja so lebensfroh und von der Sehnsucht nach erfüllter Liebe und gemeinsamem Glück der Liebenden geprägt.
Nicht nur die geänderten sozialen Verhältnisse im Spätmittelalter, sondern auch die besondere regionale und kulturelle Situation im slawisch-deutschen Interferenzgebiet an der Ostsee werden Wizlaw geprägt haben. Zum einen hatten Fürsten dort wohl nicht die Machtfülle wie anderenorts und mussten sich gegen starke Städte und die eigenen Vasallen behaupten - Wizlaw könnte gerade davon “ein Lied singen”. Zum anderen kommt auch seine slawische Herkunft zum Tragen. Die alten Chronisten sagten z.B. über die Ranen, dass “ihre Kinder lange Zeit das tun durften, was sie gern mochten”. (Die Quelle, evtl. Helmold, habe ich leider nicht mehr zur Hand. Wer kann mir da auf die Sprünge helfen?) Und Wizlaw wollte wohl gern singen, da er eine Begabung für Musik hatte, die sich in seinen wunderbaren, z.T. slawisch und skandinavisch inspirierten Melodien zeigt.
Wenn Wizlaw z.B. im Minnelied Der walt vñ angher lyt ghe breyt die Maienwonnen besingt, die er und seine Freund*innen “in angher vñ vph alben” genießen, so deutet auch das auf seine wunderschöne Heimat hin: Bei einer Wanderung von Bergen nach Ralswiek eröffnete sich mir beim Örtchen Stadthof plötzlich eine Landschaft wie auf einer Alm in den Alpen. Sicher gibt es auf der Insel Rügen noch mehr solcher Flecken, wie Stadthof nicht nur in den Höhenlagen von Stubnitz oder Granitz gelegen.
Da wir gerade bei der Natur sind: Im Mailied De voghelin beschreibt Wizlaw, wie Blumen die Wiesen in bunte Teppiche verwandeln und nennt dabei drei Farben, die auch heutzutage das Bild der Landschaft Rügens prägen. ghel (gelb) sind Löwenzahn und Butterblume, wyt (weiß) die Gänseblümchen, aber auch der zur Pusteblume gewordene Löwenzahn, und rot der Klatschmohn. Gerade das Rot des Mohns macht Gelb, Rot und Weiß zur typischen rujanischen Farbkombination der Frühlingsblumen, denn kaum woanders gibt es so viel Mohn wie auf Rügen und dem Festland davor.
Immer ist für Wizlaw auch die Freude darüber wichtig, dass die Maisonne endlich den oft besonders harten rüganischen Winter mit seinem “kalde sne vñ iz der wint” - so in des Sängers erotischstem Minnelied - bezwingt. All diese Anklänge an Natur und Umwelt in Wizlaws Liedern geben ein starkes Indiz für die Autorenschaft des letzten Fürsten der Rujanen.
Und auch die “riche van”, zu der die Festwiese aus Blumen und blumenbekränzten Frauen “ghe sticket wirt” (Lied De erde ist vnt slozen), entspringt für mich aus Wizlaws Lebensumfeld. Denn Lehnsfahnen hatten eine große Bedeutung als Symbol der Fürstenherrschaft. Wizlaw selbst empfing aus den Händen König Eriks bei seiner Belehnung sieben Fahnen stellvertretend für die sieben rujanischen Länder Insel Rügen, “die Lande zum Sunde”, Barth, Saal, Tribsees, Grimmen und Loitz. Dass Fahnen für Rügen eine besondere Symbolik hatten, zeigt sich zudem im Münzbild der fürstlichen Brakteaten, die seit Wizlaw I. eine Flagge als Hoheitszeichen trugen.
Im Spruch Ich wende buwen vph eyne stat schreibt er “Inder půtten ich be lac”. Was wäre aber, wenn Wizlaw anstelle des mittelniederdeutschen Wortes für Pfütze das Land Pütte - westlich von Stralsund gelegen - als den Ort meint, an dem er ein Haus baute und dieses einstürzte?
Und der Lobspruch auf den Herrn von Holstein? Auch der schließt die Autorenschaft des (späteren) Fürsten nicht aus, im Gegenteil. Wizlaw wird ihn vermutlich als Knappe im Dienst des Holsteiner Grafen gedichtet haben, denn auch Fürstenkinder wurden zur ritterlichen Ausbildung an einen befreundeten Hof - und das waren die Holsteiner - gegeben. Auch hierbei zeigt sich seine fast schon idealistische Begeisterung für die höfisch-ritterliche Kultur und die Lehnsgesellschaft. Übrigens: In der Nähe von Hamburg, bei Ahrensburg, liegt der Burgwall Arnesvelde. Vielleicht verbrachte er seine Knappenzeit gerade dort? In einer Urkunde aus dem Jahr 1318 wird ein “goldenes Nesselblatt” als vermutlicher Besitz Wizlaws erwähnt. Das Nesselblatt war das Wappen der Holsteiner Grafen und erscheint heute noch unter anderem im Landeswappen Schleswig-Holsteins. Hier handelt es wohl um das Abzeichen einer besonderen Verbundenheit.
Ja, in der Jenaer Liederhandschrift sind außer Wizlaw ausschließlich bürgerliche und niederadlige Sänger versammelt. Aber der Wizlaw-Corpus kam erst später als Nachtrag hinein. War es vielleicht die einzige Handschrift, die für den Kompilator verfügbar war, der sicher auch aus der östlichen Region des römisch-deutschen Kaiserreichs stammte? Die im alemannischen Südwesten entstandenen großen Codices wird er schlicht nicht gekannt haben. Unserem Wizlaw wird all das nicht traurig gemacht haben, viel eher, dass ein Teil seines Werks (bisher) verloren gegangen ist und dass mancher ihm seine Autorenschaft streitig machen möchte...
Sowohl die Bewunderung der Jesusgeburt in einem der religiösen Sprüche, als auch die vielen Anklänge in seinen Minneliedern zeigen zum einen Wizlaws Wunsch, dass es den Frauen gut gehen und sie keine Schmerzen haben sollen. Zum anderen schwingt aber auch die Sehnsucht nach eigenen Kindern mit, die Wizlaw aufgrund der schon erwähnten langen Kinderlosigkeit seiner beiden Ehen hatte.
Zu den Besonderheiten in Wizlaws Leben kommt in diesem Zusammenhang noch eine weitere hinzu, die nicht zu unterschätzen ist: Wizlaw wie sein Bruder Sambor wurden nicht von ihren Eltern für eine Ehe vorbestimmt, was sonst gerade in Fürstenkreisen teilweise schon im Kleinkindalter üblich war, um familiäre und damit politische Bande zu knüpfen oder festigen. Vielleicht hängt es mit der schon genannten Freiheit zusammen, die den Ranenkindern traditionell gelassen wurde. Ein Risiko für die Familie war es trotzdem, zumal beide Prinzen beim Tode ihres Vaters nicht verheiratet und vermutlich auch noch nicht verlobt waren. Es wird wohl auch dahin gehend einiges anders als bei anderen Geschlechtern gewesen sein, sodass man mit pauschalen Einordnungen nicht weiter kommt.
All das zeigt, dass es meiner Meinung nach generell gut wäre, sich weniger von den Vorstellungen über den hohen Adel leiten zu lassen, die hauptsächlich in den Zeiten des Barock und Rokoko geprägt wurden. Mittelalterliche Menschen hatten eine ganz andere Gedankenwelt und Lebenswirklichkeit. Jeder, egal ob Bauer, Bürger, Ritter oder eben Fürst, hatte sich als schwaches und fehlbares Menschenkind angesichts der Allmacht Gottes empfunden. Einige der Sprüche Wizlaws führen uns das ganz deutlich vor Augen. Und lesenswert ist, wie häufig “Sühne”, “haben uns gesühnt”, “haben uns versöhnt” gerade in den Friedensurkunden zwischen Wizlaw und seiner Stadt Stralsund vorkommen.
Wizlaw war ein Mensch aus Fleisch und Blut mit all seinen Ideen, Wünschen, Hoffnungen, Eigenheiten, Schwächen, Fehlern und Liebenswürdigem... und hat sich auch dreimal (nicht ganz uneitel, aber doch sympathisch) in seiner Dichtung verewigt. Ohne dem würden wir heute gar nicht wissen, dass der letzte Fürst der Rujanen, der für seine Zeitgenossen wohl immer “Vvizlau der iūghe” geblieben ist, uns solche schönen Gedanken und Melodien hinterlassen hat.

Es ist schade, dass ein sehr wichtiges Werk über den Minnesänger und Spruchdichter Wizlaw von Rügen oft nicht gewürdigt wird: Die noch zu DDR-Zeiten erschienene Dissertation von Dr. Birgit Spitschuh ”Wizlaw von Rügen: eine Monografie” (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 1989). Neben einer umfangreichen und sehr warmherzigen Würdigung des Dichters nimmt sie u.a. auch Stellung zu den Thesen Wallners und Seibickes, analysiert die Sprachform der Gedichte und interpretiert die Texte, wobei sie eigene Übersetzungen dazu darbietet.
Zwei ihrer Gedanken möchte ich noch aufgreifen. Zum Schicksalslied (Mir ge schit nicht wen mir scaffen ist) schreibt die Autorin “Dieser Spruch wirkt überzeugend aus dem Munde eines Mannes, der regieren will.” Was wäre, wenn es in der Realität wirklich so verlaufen ist, wie in der Fiktion des Singspiels “Wizlaw, der Verführer”? Wenn der erstgeborene Prinz Wizlaw tatsächlich zugunsten seines jüngeren Bruders Sambor als Nachfolger von seinem Vater zurückgesetzt werden sollte? Vielleicht weil er ihm aufgrund seiner Sangesleidenschaft oder seines Idealismus das Amt eines Fürsten nicht zutraute oder vielleicht auch wegen seiner Behinderung? Das wäre ein fast einmaliger Vorgang! Aber auch die dann tatsächlich stattgefundene gemeinsame Regentschaft beider Brüder ist schon sehr bemerkenswert.
Im Exempel Tzů rome eyn wnderlist ghe scach, das sich mit Leben und Opfertod des römischen Ritters Marcus Curtius befasst, gibt es eine kurze, aber erstaunliche Passage. Wizlaw schreibt “yr ghot” und gesteht damit den antiken Römern einen anderen Gott als den christlichen zu (oder einen von mehreren Göttern). Und das ohne irgend eine negative Wertung! Auf dem zweiten Blick ist diese Toleranz gar nicht so verwunderlich, denn zum Zeitpunkt von Wizlaws Geburt um 1265 waren noch keine hundert Jahre vergangen, als die Ranen und damit deren Fürstenhaus als letzte Mitteleuropäer christlich wurden. So könnte hier die Erinnerung an die eigene Vergangenheit mitgeschwungen haben. (Ein ähnliches Beispiel für religiöse Toleranz zeigt das Gleichnis vom Traum Nebukadnezars. In diesem Spruch lässt Wizlaw sowohl Christen als auch Heiden den Verfall der Welt beklagen.)
Dr. Spitschuh unterzieht beide Textstellen - wie auch andere in Wizlaws Schaffen - einer intensiven und lesenswerten Analyse. Ihrem Werk sei eine größere Bekanntheit gegönnt!

Auch zwei sehr neue Schriften gehen von einer Identität des Verfassers der Texte und Melodien der Seiten 72v-80v der Jenaer Liederhandschrift mit dem Fürsten Wizlaw III. von Rügen aus und begründen dies auch überzeugend: Reinhard Bleck in seiner 2000 erschienenen Monographie “Untersuchungen zur sogenannten Spruchdichtung und zur Sprache des Fürsten Wizlaw III. von Rügen” (hier findet ihr einen interessanten Aspekt aus seinen Untersuchungen) und Horst Brunner und Dorothea Klein in dem von ihnen 2021 herausgegebenen Werk “Wizlav - Sangsprüche und Minnelieder”.

“Ihc wil singhen” - der erste Spruch Wizlaws von mir weitergedichtet

Der erste, nur sehr fragmentarisch überlieferte Spruch Wizlaws, der oft fälschlich dem Vorgängerautor Friedrich von Sonnenburg zugesprochen wurde, hat mich inspiriert diesen weiter zu dichten. Zuerst habe ich ihn grob in unserer heutigen Sprache entworfen, dann mithilfe Lexers’ Mittelhochdeutschem Taschenwörterbuch ins reine Mittelhochdeutsch übertragen und anschließend dichterisch gestaltet. Zum Schluss musste ich nochmals den neuhochdeutschen Text ebenso anpassen. Das alles war zwar nicht ganz einfach, hat aber Spaß gemacht. Wer möchte und dazu das notwendige Wissen besitzt, kann den Spruch gern in die mittelhochdeutsch-mittelniederdeutsche Mischform des Wizlaw-Nachtrags der Jenaer Liederhandschrift übersetzen. Diese Form würde Wizlaws Dichtung am nächsten kommen.
Der Inhalt des kurzen Fragments (Preis Gottes in beiden Stollen und Hinweis auf verlorenes Glück in dem folgenden unvollständigen Vers des Abgesangs) hat mich bewogen, einen Spruch zu entwickeln, in dem der unglückliche Wizlaw den Tod zwei seiner Kinder beklagt: Die erste Strophe als demutsvolle Bitte an Gott, die zweite geprägt von Selbstzweifeln und der Trostsuche und die dritte als Trostspende durch seine liebe Frau Agnes.
Nachweislich starb sein Sohn und Nachfolger Jaromar ein halbes Jahr vor dem am Herzen gebrochenen Vater und seine Tochter Euphemia ist ebenfalls im Kindesalter in nur einer einzigen Urkunde nachweisbar. Es ist also denkbar, dass auch sie in jungen Jahren verstarb.
In der folgenden Gegenüberstellung findet ihr die mittelhochdeutsche Weiterdichtung und die dazugehörige Übertragung in unsere heutige Sprache. Das Original Wizlaws habe ich blau hervorgehoben.

Ganz bestimmt hatte dieser Spruchton, der vermutlich eine ähnlich große Länge wie der Ton Menschen kint denket dar an umfasste, einen ganz anderen Inhalt. Am Ende könnte es sich dabei sogar um den wichtigsten Text Wizlaws gehandelt haben, vielleicht gar mit politischem Inhalt.
Sollten die fehlenden Seiten des Wizlaw-Corpus’ jemals gefunden werden - was ich innigst hoffe - dann ist mein Dichtversuch natürlich hinfällig...

Ich wil singen
in der niuwen wîse ein liet
von dem, der mich gemachet hat,
der mak mir geben
unde nemen, swaz er wil.
Ich wil bringen,
dârzuo herze unt den sin ich riet,
daz al mîn heil an im bestât,
lîp, guot, muot, leben,
waz des ist, er mak vil
Wol mîn spil lezzen, daz ich ze rehte haben
solt,
wil ich dir bringen, hêr, mînes herzens warme.
Ich bite dich sêr:
nim mînen son milteclich in dîne arme.
Ich bite dich sêr:
geleite mîn tohterlîn in dîn hôhes rîche holt.

Ich will singen
in der neuen Weise ein Lied
von dem, der mich erschaffen hat.
Der mag mir geben
und nehmen, was er will.
Ich will bringen,
dazu Herz und den Sinn ich beriet,
dass all mein Heil durch ihm besteht.
Leib, Gut, Geist, Leben,
was das ist, er vermag viel.
Doch meines Glücks beraubt, das ich glaubte sicher und reich,
will ich dir bringen, Herr, meine Herzenswärme.
Ich bitte dich sehr:
Nimm meinen Sohn liebend in deine Arme.
Ich bitte dich sehr:
Geleite mein Töchterlein in dein hohes Himmelreich.

Ich muoz bangen
wegen mîner schult unt sünde
unt ouch der langen heiden zît
der mîne anen
waren vervallen sô sêre.
Ich muoz danken
vür diu gnâde, diu dû kanst künden.
Wird nihts uns blîben lanc unt wît?
Verschütec diu banen?
Allez vergân ân êre?
Diu burgen verslân, diu sprâche unt lieder verklungen?
Swer schützet nu al diu helfe bedurfen sô sêr?
Owê, liep vrouwe,
werden vogelîn den meie besingen noch mêr?
Owê, liep vrouwe,
unse arm kindelîn! - Ist denne allez versunken?

Ich muss bangen
wegen meiner Schuld und Sünden
und auch der langen Heidenzeit,
der meine Ahnen
waren verfallen so sehr.
Ich muss danken
für die Gnad’, die du kannst künden.
Wird nichts uns bleiben weit und breit?
Verschüttet die Bahnen?
Alles vergangen ohne Ehr’?
Die Burgen geschleift, die Sprache und Lieder verklungen?
Wer beschützt nun all die, die Schutz brauchen so sehr?
Oweh, liebe Frau,
werden Vöglein den Maien besingen noch mehr?
Oweh, liebe Frau,
unsre armen Kinderlein! - Ist denn alles versunken?

Ach, Wizlâv, mîn,
lâz uns trôst unt hofnunge vinden,
ouch swen diu trêne vliezen mit.
Ô Marîâ, bit den,
der heilen kan al den smerze!
Diu vogelîn
werden einen niuwen mei singen
unt diu bluomen gel, rôt unde wît.
Ô Hêr, dîne gnâde
machet uns warm daz herze.
In einic wênic hundert jâr dâ wird ieman komen,
der dich, der uns uz vollic herzen wird minnen.
Diu guoten mensche
werden vrô unt lûte dîne lieder singen.
Diu guoten mensche
werden sagen: ‘Iuwer leben was doch niht verronnen.’”

Ach, Wizlaw, mein,
lass uns Trost und Hoffnung finden,
auch wenn die Tränen fließen heiß.
O Maria, bitt’ den,
der heilen kann allen Schmerz!
Die Vögelein
werden den Mai neu besingen
und die Blumen, gelb, rot und weiß.
O Herr, deine Gnaden
machen uns warm das Herz.
In ein paar hundert Jahren, da wird jemand kommen,
der dich, der uns von ganzem, heißem Herzen mag.
Die guten Menschen
werden froh deine Lieder singen jeden Tag.
Die guten Menschen
werden sagen: ‘Euer Leben war doch nicht zerronnen.’”

...und zum Schluss die Idee einer Würdigung des rüganischen Minnesängers und Fürsten Wizlaw III.

Mich hat es schon immer traurig gemacht, dass es keine Skulptur oder Ähnliches zu Ehren von Wizlaw III. gibt. Weder auf Rügen, noch in Barth oder Stralsund oder anderswo. In der Sundstadt gibt es nicht einmal ein Denkmal für den Stadtgründer Wizlaw I.. Der einzige Slawenfürst Rügens, der bildlich dargestellt wurde (natürlich kein Portrait der Person), ist der, der es meiner Meinung nach am wenigsten verdient hätte: der kriegerische Jaromar II. auf dem Mönchguttor. Aber wo bleibt der Dichter und Sänger einfühlsamer Lieder? Deshalb möchte ich hier meine Idee unterbreiten:
An einem zentralen Ort der Insel Rügen, z.B. auf dem alten slawischen Burgwall Rugard in Bergen, könnte eine kleine Rotunde errichtet werden. An der Innenwand wäre Platz für die Lieder und Sprüche des Minnesängers (original wie in Übersetzung). Über diesen Texten würden sich farbige Glasfenster, auf denen die Stationen des Lebens und Schaffens Wizlaws dargestellt sind, sehr schön machen. Und wenn doch noch jemals sein Grab (und vielleicht auch die seiner Eltern, Geschwister und Kinder) von den Archäologen gefunden würde, dann wäre diese Stätte auch ein würdiger Platz für die letzte Ruhe. Vielleicht könnte sich um diesen kleinen Erinnerungsort sogar eine eigene Kultur entwickeln, ähnlich der am Grab von Héloise und Abélard in Paris, das Liebespaare stets mit Blumen schmücken.

Die Quellen, auf die ich mich bei meiner Arbeit vorrangig gestützt habe (chronologisch geordnet):
1. Hagen, Fr. H. v. d. “Minnesinger, Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts I - IV”, Leipzig 1838
2. Fabricius, C. G. ”Urkunden zur Geschichte des Fürstentums Rügen unter den eingeborenen Fürsten”, Stettin 1851
3. Dannenberg, H. ”Pommerns Münzen im Mittelalter”, Berlin 1864
4. Pyl, Th. “Lieder und Sprüche des Fürsten Wizlaw von Rügen”, Greifswald 1872
5. Dannenberg, H. ”Münzgeschichte Pommerns im Mittelalter”, Berlin 1893
6. Pyl, Th. ”Die Entwicklung des pommerschen Wappens, im Zusammenhang mit den pommerschen Landesteilungen”, in Pommersche Geschichtsdenkmäler VII, Greifswald 1894
7. Behm, O. “Beiträge zum Urkundenwesen der einheimischen Fürsten von Rügen”, Greifswald 1913
8. Gülzow, E. ”Des Fürsten Wizlaw von Rügen Minnelieder und Sprüche”, Greifswald 1922
9. Haas, A. ”Arkona im Jahre 1168”, Stettin 1925
10. Hamann, C. ”Die Beziehungen Rügens zu Dänemark von 1168 bis zum Aussterben der einheimischen rügischen Dynastie 1325”, Greifswald 1933
11. Scheil, U. “Genealogie der Fürsten von Rügen (1164 - 1325)”, Greifswald 1945
12. Rudolph, W. ”Die Insel Rügen”, Rostock 1954
13. Ohle, W., Baier, G. ”Die Kunstdenkmale des Kreises Rügen”, Leipzig 1963
14. Steffen, W. ”Kulturgeschichte von Rügen bis 1817”, Köln, Graz 1963
15. Werg, S. ”Die Sprüche und Lieder Wizlavs von Rügen, Untersuchungen und kritische Ausgabe der Gedichte”, Hamburg 1969
16. Vá
ňa, Z. ”Die Welt der alten Slawen”, Praha 1983
17. Gloede, G. ”Kirchen im Küstenwind - Band III”, Berlin 1984
18. Herrmann, J. (Hg.) ”Die Slawen in Deutschland - Ein Handbuch”, Berlin 1985
19. Spiewok, W. ”Wizlaw III. von Rügen, ein Dichter”, in: Almanach für Kunst und Kultur im Ostseebezirk, Nr. 8 (1985)
20. Spitschuh, B. ”Wizlaw von Rügen: eine Monografie”, Greifswald 1989
21. Lange, A. “Tausendjähriges Ralswiek”, Bergen 1990
22. Hages-Weißflog, E. “snel hel ghel scrygh ich dinen namen - Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhunderts”, in: ”Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch”, Tübingen 1996
23. Bleck, R. ”Untersuchungen zur sogenannten Spruchdichtung und zur Sprache des Fürsten Wizlaw III. von Rügen” GAG Folge 681, Göppingen 2000
24. Schmidt, I. ”Götter, Mythen und Bräuche von der Insel Rügen”, Rostock 2002
25. Jahn, L. ”Wizlaw III. von Rügen - Fürst und Minnesänger” und ”Wizlaws Liederbuch”, Hofgeismar 2003
26. Sobietzky, G. “Das Fürstentum Rügen und sein Geldwesen”, Stralsund 2005
27. Kratzke, Ch., Reimann, H., Ruchhöft, F. “Garz und Rugendahl auf Rügen im Mittelalter”, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 90 (2004), Kiel 2005
28. Ruchhöft, F. “Die Burg am Kap Arkona” (Reihe: Archäologie in Mecklenburg-Vorpommern, Band 7), Schwerin 2010
29. Reimann, H., Ruchhöft, F., Willich, C. “Rügen im Mittelalter” (Reihe: Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Band 36), Stuttgart 2011
30. Ev. Kirchengemeinde St. Marien Bergen auf Rügen (Hg.) “Das bestickte Leinentuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Bergen auf Rügen”, Bergen auf Rügen 2013
31. Möller, G. “Eine interessante ‘Schatzkiste’ aus dem Jahr 1318 in Stralsund - Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Sachkultur des norddeutschen Adels”, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 102 (2016), Kiel 2017
32. Brunner, H., Klein, D. ”Wizlav - Sangsprüche und Minnelieder” IMAGINES MEDII AEVI Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung Band 52, Wiesbaden 2021

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