|
Die untere Bildreihe beginnt mit einem erneuten ritterlichen Kampf in der sechsten Szene über zwei Medaillons. Die Spielleute des ersten Kampfes sind wieder anwesend, jedoch stellt der Trommler diesmal einen Pelzhut und ein Gewand zur Schau, als ob es um die Erlangung dieser Kleidungsstücke und eventuell einer mit ihnen verbundenen Würde geht. Jetzt wirkt alles dramatisch! Beide Kämpfer haben ihre spitzen Lanzen eingelegt und zu Hufen der Pferde scheint es zu brennen. (Wenn es sich bei diesem flammenähnlichen Muster nur um Grasbüschel handeln sollte, warum fehlt es dann in den entsprechenden Szenen der oberen Bildreihe? Die Gestalterin oder der Gestalter der Stickvorlage wollte uns mit diesem Muster bestimmt etwas Wichtiges mitteilen.) Wizlaws Gegner trägt in seinem Wappen als Symbol eine ganze Lilie, die die größere Macht und Kraft ihres Trägers versinnbildlichen soll. Dem entsprechend geht der Kampf aus: Wizlaw (mit der minderen halben Lilie) unterliegt. So muss nun in Szene sieben Knappe Satko mit Ross und Waffen seines Herrn in einen Wald (?) fliehen. Das Feuer verfolgt ihn aber sogar bis dahin. Wizlaw selbst zeigt seinen seelischen und wohl auch körperlichen Schmerz über diese Niederlage in den beiden folgenden Bildern: Er liegt zusammengekrümmt mit dem Gestus der Trauer auf einer Lagerstatt. Eigenartiger Weise trägt er den Pelzhut, den er eigentlich gar nicht hätte erlangen dürfen. Oder handelt es sich nicht um den selben Hut? (Hier gibt die Darstellung ein Rätsel auf!) Was aber eindeutig und meiner Meinung nach entscheidend ist, ist das Auftreten und die Rolle der Frauen im Schluss der Bilderzählung. Zunächst treten beide an den zu Tode betrübten und schlafenden Wizlaw heran. Die vrouwe minne streicht ihm behutsam über die linke Schulter, als ob sie ihn trösten möchte. Ihr zu ihm geneigter Kopf verstärkt diese Zuwendung. Margarete steht hinter der Gekrönten mit bittender Handhaltung. Danach verlassen Beide wieder unseren geschlagenen Helden, wobei vrouwe minne eine Schale mit sich nimmt. Doch in dieser Mitnahme der Schale sehe ich kein Wegnehmen, sondern eher ein Unter-Schutz-Stellen von etwas, was Wizlaw sehr wichtig ist. Denn in der zehnten und letzten Szene sehen wir wieder die Minnekönigin an zentraler Position, wie sie dem neben ihr stehenden Wizlaw die Schale reicht, der bittend und zugleich sie preisend seine Hände darüber hält. Hinter ihr steht Margarete, die gleichfalls mit der rechten Hand preisend auf vrouwe minne und mit der Linken auf sich weist. So ist im letzten Bild wieder auf die Verbindung zwischen Wizlaw und Margarete aus dem ersten Bild Bezug genommen, diesmal jedoch über die Vermittlung durch die Minne, die von Beiden gepriesen wird.
Was kommt nun durch diese Geschichte meiner Meinung nach zum Ausdruck? Wizlaws Hin-und-Hergerissenheit und Abhängigkeit in der realen politischen Konstellation seiner Zeit und Region, sein Wunsch sich behaupten zu können und seine Angst vor Niederlage, Verstoßung und Verlust könnten hier sichtbar werden. Sinngemäß: Den ersten Kampf gewinnt Wizlaw, aber im zweiten, entscheidenden unterliegt er. Und entscheidende Kämpfe hat Wizlaw verloren, vor allem die Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden Stralsund. (“Städte wie Stralsund haben die ’volle Lilie’, Fürsten wie er nur die ’halbe Lilie’.”) Wenn ihr euch Wizlaws tatsächliches Wappenschild auf seinen Siegeln anschaut, dann fällt euch bestimmt auf, dass der Greif auf seinem Fürstensiegel eine Abwehrhaltung einnimmt: die Fänge schützend vor dem angespannten Oberkörper ausgebreitet und den Kopf nach hinten geneigt. Das scheint mir ein ganz bedeutsamer Unterschied zu seinem Prinzensiegel und dem Siegel seines Vaters zu sein und sagt für mich einiges über Wizlaws Befindlichkeiten aus. Seine Verlustängste kann man aber noch weiter fassen: Die Sorge um ausbleibende Nachkommen, die eine lange Zeit Wizlaws Leben (und das seiner Frau) bestimmte, hat gewiss Ängste wegen eines Aussterbens der eigenen Familie hervorgerufen. Aber vom Erlöschen war damals noch mehr bedroht, wie die Sprache der Rügenslawen oder die feudalhöfische Lehnsgesellschaft, mit deren Kultur sich Wizlaw ja so sehr identifizierte. All das wird er gespürt haben. Vielleicht liegt hier sogar die Lösung für die Frage, warum in der Erzählung auf dem Leinentuch Wizlaw trotz seines verlorenen zweiten Kampfes den Pelzhut trägt. Wenn wir annehmen, dass sein Gegner mit der vollen Lilie der Herzog von Pommern-Wolgast ist, dann könnten uns die Bilder sagen: Du, Wizlaw, hast zwar den Kampf verloren, bekommst aber trotzdem den Fürstenhut. Aber du wirst ihn wieder (und endgültig) an den Pommernherzog verlieren, weil deine Familie aussterben wird. Und sicher sind deshalb sowohl Wizlaws sehr persönlich formulierte Bitten um Gottes Beistand in einigen Sprüchen als auch seine Sehnsucht nach erfüllter Liebe in den Minneliedern auch als Wunsch nach Abkehr von seinen Ängsten und Bedrängnissen zu verstehen. Es scheint fast so, als ob die Frauen diejenigen sind, die ihn durch ihre Minne aus seinem Elend erretten mögen. Im Gegensatz dazu erscheinen Wizlaw die Bedrohungen, denen auch die Liebe ausgesetzt sein kann, weniger gefährlich (so im Taglied List du inder minne dro). Vielleicht weil er die Kraft der Minne als so stark begreift. Und hier schließt sich wieder der Kreis zum Bergener Leinentuch.
Falls ich mit meiner Lösung des “Bilderrätsels” völlig falsch liegen sollte, eine anrührende Geschichte ist sie allenfalls, die sich so auch in Wizlaws Leben zugetragen haben könnte... Wer von euch auch eine Idee zum Inhalt dieser Bildergeschichte hat, kann sie gern im Forum Ruyanorum veröffentlichen.
Im 2017 erschienenen Band 102 (2016) der Neuen Folge “Baltische Studien - Pommersche Jahrbücher für Landesgeschichte” findet sich auf den Seiten 31-52 ein weiterer interessanter Aspekt des höfischen Lebens zur Zeit Wizlaws. Im lesenswerten Aufsatz “Eine interessante ‘Schatzkiste’ aus dem Jahr 1318 in Stralsund - Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Sachkultur des norddeutschen Adels” geht der Autor Gunnar Möller der Frage nach, welchen Bezug der in einer Urkunde des Jahres 1318 aufgelistete Inhalt einer in Stralsund deponierten Kiste zum Fürsten Wizlaw III. haben könnte. Neben anderem kostbarem Inventar befand sich in dieser Kiste ein Teil eines Zepters, ein silberner Gürtel, eine Gewandspange in Form einer Lilie (sic!), ein goldenes Nesselblatt (wohl ein Abzeichen der Verbundenheit mit den Holsteiner Grafen) und ein Psalter. Bemerkenswert ist auch ein “Stein, Camhu genannt” (lapis camhu vocatus). Der Autor interpretiert dieses Wort als eine Kamee. Mich hat jedoch das Wort “genannt” nachdenklich gemacht. Es klingt für mich, als ob dieser Stein den Namen “Camhu” trug. Deshalb recherchierte ich in westslawischen Sprachen, ob es dort ein ähnliches, sinnvolles Wort gibt. Bei der Deutung des C als K-Laut bin ich im Kaschubischen, der mit dem Polabischen der Elb- und Ostseeslawen am nähesten verwandten und heute noch lebendigen Sprache, fündig geworden. Dort gibt es die Worte kamë (= polnisch: kamień, = Stein) und kamëk (= polnisch: kamyk, = kleiner Stein, Kiesel, Edelstein). Könnte es einen Stein gegeben haben, der eine besondere ideele Bedeutung für das rüganische Fürstenhaus hatte und der über die Generationen hinweg tradiert wurde? Spekulieren könnt ihr dazu ebenfalls hier im Forum Ruyanorum. Die oben genannte Schriftenreihe erscheint im Kieler Verlag Ludwig und kann auch von dort bezogen werden.
Die Quellen, auf die ich mich bei meiner Arbeit vorrangig gestützt habe (chronologisch geordnet): 1. Hagen, Fr. H. v. d. “Minnesinger, Deutsche Liederdichter des 12., 13. und 14. Jahrhunderts I - IV”, Leipzig 1838 2. Fabricius, C. G. ”Urkunden zur Geschichte des Fürstentums Rügen unter den eingeborenen Fürsten”, Stettin 1851 3. Dannenberg, H. ”Pommerns Münzen im Mittelalter”, Berlin 1864 4. Pyl, Th. “Lieder und Sprüche des Fürsten Wizlaw von Rügen”, Greifswald 1872 5. Dannenberg, H. ”Münzgeschichte Pommerns im Mittelalter”, Berlin 1893 6. Pyl, Th. ”Die Entwicklung des pommerschen Wappens, im Zusammenhang mit den pommerschen Landesteilungen”, in Pommersche Geschichtsdenkmäler VII, Greifswald 1894 7. Behm, O. “Beiträge zum Urkundenwesen der einheimischen Fürsten von Rügen”, Greifswald 1913 8. Gülzow, E. ”Des Fürsten Wizlaw von Rügen Minnelieder und Sprüche”, Greifswald 1922 9. Haas, A. ”Arkona im Jahre 1168”, Stettin 1925 10. Hamann, C. ”Die Beziehungen Rügens zu Dänemark von 1168 bis zum Aussterben der einheimischen rügischen Dynastie 1325”, Greifswald 1933 11. Scheil, U. “Genealogie der Fürsten von Rügen (1164 - 1325)”, Greifswald 1945 12. Rudolph, W. ”Die Insel Rügen”, Rostock 1954 13. Ohle, W., Baier, G. ”Die Kunstdenkmale des Kreises Rügen”, Leipzig 1963 14. Steffen, W. ”Kulturgeschichte von Rügen bis 1817”, Köln, Graz 1963 15. Werg, S. ”Die Sprüche und Lieder Wizlavs von Rügen, Untersuchungen und kritische Ausgabe der Gedichte”, Hamburg 1969 16. Váňa, Z. ”Die Welt der alten Slawen”, Praha 1983 17. Gloede, G. ”Kirchen im Küstenwind - Band III”, Berlin 1984 18. Herrmann, J. (Hg.) ”Die Slawen in Deutschland - Ein Handbuch”, Berlin 1985 19. Spiewok, W. ”Wizlaw III. von Rügen, ein Dichter”, in: Almanach für Kunst und Kultur im Ostseebezirk, Nr. 8 (1985) 20. Spitschuh, B. ”Wizlaw von Rügen: eine Monografie”, Greifswald 1989 21. Lange, A. “Tausendjähriges Ralswiek”, Bergen 1990 22. Hages-Weißflog, E. “snel hel ghel scrygh ich dinen namen - Zu Wizlaws Umgang mit Minnesangtraditionen des 13. Jahrhunderts”, in: ”Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch”, Tübingen 1996 23. Bleck, R. ”Untersuchungen zur sogenannten Spruchdichtung und zur Sprache des Fürsten Wizlaw III. von Rügen” GAG Folge 681, Göppingen 2000 24. Schmidt, I. ”Götter, Mythen und Bräuche von der Insel Rügen”, Rostock 2002 25. Jahn, L. ”Wizlaw III. von Rügen - Fürst und Minnesänger” und ”Wizlaws Liederbuch”, Hofgeismar 2003 26. Sobietzky, G. “Das Fürstentum Rügen und sein Geldwesen”, Stralsund 2005 27. Kratzke, Ch., Reimann, H., Ruchhöft, F. “Garz und Rugendahl auf Rügen im Mittelalter”, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 90 (2004), Kiel 2005 28. Ruchhöft, F. “Die Burg am Kap Arkona” (Reihe: Archäologie in Mecklenburg-Vorpommern, Band 7), Schwerin 2010 29. Reimann, H., Ruchhöft, F., Willich, C. “Rügen im Mittelalter” (Reihe: Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, Band 36), Stuttgart 2011 30. Ev. Kirchengemeinde St. Marien Bergen auf Rügen (Hg.) “Das bestickte Leinentuch aus dem Zisterzienserinnenkloster Bergen auf Rügen”, Bergen auf Rügen 2013 31. Möller, G. “Eine interessante ‘Schatzkiste’ aus dem Jahr 1318 in Stralsund - Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Sachkultur des norddeutschen Adels”, in: Baltische Studien, Neue Folge Band 102 (2016), Kiel 2017 32. Brunner, H., Klein, D. ”Wizlav - Sangsprüche und Minnelieder” IMAGINES MEDII AEVI Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung Band 52, Wiesbaden 2021
zurück zum Text über Wizlaw III.
|